Falls es noch jemand nicht mitbekommen hat: Es ist Wahlkampf. Und die Parteien und Politiker stellen sich schon mal darauf ein. Bundeskanzler Christian Kern und seine SPÖ setzen dabei ganz auf den Plan A – und lenken gern den Fokus weg von Personen, hin zu Programmen.

Das zeigt sich besonders gut in einem Interview von Kern mit dem “Kurier”. Obwohl keine einzige Frage sich explizit den Inhalten und dem Programm der SPÖ widmet, kommt der Bundeskanzler zehnmal von alleine darauf zu sprechen. Auf Fragen zum politischen Prozess, zu Taktik und zum Wahlkampf antwortet Kern mit politischen Forderungen und Visionen. Beispiel gefällig?

Kurier: Wenn sich die Sozialpartner beim Mindestlohn nicht einigen, ist wieder die Regierung am Zug. Der ÖGB (Anm FIF: Österreichischer Gewerkschaftsbund) will angeblich gar keinen Mindestlohn.

Kern: Natürlich will der ÖGB höhere Löhne. Aber es geht ja nicht darum, den ÖGB zu befriedigen. Mir geht es um 300.000 Menschen, die weniger als 1500 Euro verdienen. Davon sind mehr als 200.000 Frauen. Wenn es da keine Fortschritte gibt, müssen wir noch mehr Druck machen.

Das ist eine hohe Zahl. Wenn sie stimmt, hat der Kanzler möglicherweise seine Kern-Forderung im Wahlkampf gefunden.

Und in der Tat haben sich Medien schon des Öfteren auf diese Zahl bezogen. Sie kommt aus dem Sozialbericht 2015/16. Aber sie meint nicht jene, die weniger als 1500 Euro monatlich verdienen. Sondern die Anzahl der working poor in Österreich.

Während manche aus ihrem Besitz über ein hohes Einkommen verfügen, gelten gleichzeitig fast 300.000 Beschäftigte als Working Poor, als arm trotz Arbeit. Alleinerziehende Frauen, Ausländer/innen, Menschen in Hilfsarbeiter/innen/jobs und mit wenig Schulbildung sind besonders gefährdet.

Als Fußnote wird im Bericht angemerkt: “Das sind definitionsgemäß Menschen, die zumindest die Hälfte des Jahres Vollzeit- oder Teilzeit beschäftigt waren.” Bei der Errechnung der Haushaltseinkommen wird “das gesamte Einkommen berücksichtigt, das den Mitgliedern eines Haushaltes innerhalb eines Jahres zur Verfügung steht”, also nicht nur Einkommen aus Arbeit, sondern auch Pensions- und Sozialleistungen. “Kapitaleinkommen” oder “sonstige private Transferzahlungen” werden wiederum abgezogen und seien schwer erfassbar.

Wie sehr ist working poor ein Frauenproblem?

Inwiefern davon Frauen überproportional betroffen sind? Unter den working poor – das sind Arbeitende mit Einkommen unter 997 Euro – sind 123.000 Frauen und 174.000 Männer einberechnet, prozentuell sind Frauen (zu acht Prozent) aber etwas mehr betroffen als Männer (zu sieben Prozent). Als Gründe für den Status als working poor nennt der Sozialbericht “geringe Qualifikation und daher schlechte Entlohnung, prekäre Jobs, Diskriminierung, geringe Wochenarbeitszeit (…)” – also auch Arbeitsbedingungen außerhalb von Vollzeit.

In Kapitel 12 beschäftigt sich der Bericht explizit mit Lebensbedingungen, Arbeit und Einkommen und geht unter anderem explizit auf die Lage von Frauen ein. Dabei zeigt sich auch, dass die unterschiedliche Erwerbstätigkeit durch Kinder bzw. Kinderlosigkeit in die Statistik mit einfließt:

Außerdem sagt der Bericht dazu:

Besonders häufig vom Phänomen „working poor“ betroffen sind alleinerziehende Frauen (26%) und Personen mit nicht-österreichischer Staatsbürgerschaft (22%).

Selbst wenn man also die 300.000 working poors zur Berechnung heranzieht – und es ist nicht sicher, dass Kern sich darauf bezogen hat -: Dass Frauen überproportional betroffen sind, ist richtig.

Wie viele Menschen wären von einem Mindestlohn betroffen?

Die Zahl 300.000, die Kern nennt, bezieht sich entweder auf working poor oder auf eine “Schätzung”. Wie “Die Presse” im März 2015 festhält:

Nun, im März 2015, liegen in Österreich nach übereinstimmenden Schätzungen der Experten von Gewerkschaft und Wirtschaftskammer rund 250.000 bis 300.000 Vollzeitbeschäftigte unter der 1500-Euro-Marke.

Wenn Kern sich aber immer noch auf den Sozialbericht bezieht, liegt die Zahl sogar höher als 300.000.

Mindestens 400.000 Menschen in der Privatwirtschaft erzielen auf Basis von Vollzeitbeschäftigung einen Bruttolohn von weniger als 1.500 EUR, mehr als 650.000 erhalten weniger als 1.700 EUR. Niedriglohnbeschäftigte sind in vielen Haushaltskonstellationen arm trotz Arbeit.

Inwiefern ist das Fehlen eines Mindestlohns ein Frauenproblem?

Von den “Haushaltskonstellationen” sind vor allem Frauen betroffen, wie die obige Grafik zeigt. Sie arbeiten mehr in Nicht-Vollzeitverhältnissen als Männer. (“Fast 50 Prozent der Frauen, aber nur zehn Prozent der Männer arbeiten Teilzeit”, schreibt die “Presse”.)

Außerdem gibt der Sozialbericht an, dass zwei Drittel der Betroffenen – also jene mit weniger Verdienst als 1.500 Euro brutto im Monat – Frauen sind. Zwei Drittel von 400.000 sind abgerundet 266.600 – also immer noch mehr, als Kern sagt.

Fazit

Kern hat also vielleicht einfach eine Zahl verwechselt – eigentlich würde der Mindestlohn demnach noch mehr Menschen betreffen. Vielleicht ist die Zahl auch absichtlich niedrig angesetzt oder berechnet andere Auswirkungen mit ein, die von Kritikern vermutet werden. Oder es ist die Schätzung der Sozialpartner gemeint.

Wenn man die 300.000 working poor heranzieht, sind zwar nicht 200.000 davon Frauen – aber die überproportionale Betroffenheit von Frauen ist immer noch da, und wenn man die entsprechende Zahl aus dem Sozialbericht heranzieht stimmt auch diese Aussage wieder.

In jedem Fall ist die Aussage richtig. Ja, 300.000 Menschen wären von der Einführung eines Mindestlohnes betroffen, und ja, davon wären sicher 200.000 Frauen. Damit hat Kern sein Wahlkampfthema wohl gefunden.

 

Weiterführende Links:

Einkommen: 300.000 profitieren von Mindestlohn – DiePresse

Fast 300.000 “Working Poor” in Österreich – DiePresse

Interview: Kern will wichtige Projekte umsetzen, “egal, mit wem” – Kurier

Sozialbericht 2015/16 – Broschürenservice des Sozialministeriums

Working poors in Österreich – Fakt ist Fakt

Fotocredit Christian Kern (Kleines Bild): BKA / Andy Wenzel