Wahlkampfzeit ist ja immer ganz besonders: Da wird mit Pizzalieferungen auf die kommende Materialschlacht eingestimmt, mit Versprechungen zu weniger Steuern und steigenden Pensionen um sich geworfen und mit möglichst starken Aussagen um die Aufmerksamkeit der Wähler gebuhlt, bis der politische Gegner den Vorwurf des Populismus erhebt.

Eines dieser öffentlichkeitswirksamen Zitate lieferte Sebastian Kurz am 21. August im Handelsblatt. Er warnt dabei vor dem wachsenden Einfluss von Saudi-Arabien und der Türkei am Westbalkan und untermalt seine Aussage damit, dass „in Sarajevo oder Pristina Frauen dafür bezahlt werden, voll verschleiert auf die Straße zu gehen, um das Straßenbild zu ändern“.

Nun ist diese Geschichte nicht neu, die Mär von den bezahlten Kopftüchern gab es schon in den 1920er-Jahren. Bestätigt werden konnte sie bisher aber nicht, berichtete die serbische Zeitung Politika schon letztes Jahr. Der Westbalkan gilt allerdings als beliebtes Rekrutierungsgebiet für Dschihadisten, überdurchschnittlich viele radikalisierte Kämpfer kommen von hier. Die konservative Zeitung Le Figaro berichtete im Mai sogar von Preislisten religiöser Organisationen: 300 Euro für einen lang gewachsenen Bart, 100 Euro für einen Hidjab.

Aber sind das Gerüchte oder Fakten? Fragt man Menschen im Kosovo und in Bosnien, ergibt sich ein unklares Bild: Ja, die Geschichte stimme, der Einfluss der Saudis sei bekannt, sagen die einen. Blödsinn, nur unbewiesene Gerüchte und Hetze, sagen die anderen.

Die Nachfrage von Fakt ist Fakt bei NGOs ergibt wenig Fakten zum Thema – außer, dass man dazu nicht viel weiß.

 

“Wir haben keine Informationen aus offiziellen Quellen dazu und können daher keinen Kommentar abgeben”, schreibt UN Women Bosnia and Herzegovina. Auch das bosnische Frauennetzwerk Zenska Mreze BiH, das mehr als 50 Frauenhilfsorganisationen in Bosnien verbindet, schlägt ähnliche Töne an: “Im Namen des bosnischen Frauennetzwerkes möchte ich Sie informieren, dass wir keine Beweise haben, die die Aussage bestätigen oder verneinen. Wir würden es sehr schätzen, wenn Außenminister Kurz seine Quellen für diese Aussage mit der allgemeinen Öffentlichkeit teilen würde.”

Ziemlich sicher, dass es solche Vorfälle nicht gibt oder gegeben hat, ist hingegen die Islamische Gemeinschaft Bosniens. Sie erachtet die Aussage von Sebastian Kurz als unangemessen und hält fest, dass die Islamische Glaubensgemeinschaft in Bosnien und Herzegovina keine Kenntnis davon hat, dass irgendwer muslimische Frauen dafür bezahlt, sich in einer bestimmten Weise zu kleiden. “Es steht jedem in der Bevölkerung zu, sogar den muslimischen Frauen, sich so zu kleiden, wie man es selber möchte”, heißt es. Der Einsatz von Außenminister Kurz, mehr Aufmerksamkeit der EU-Institutionen in Richtung Westbalkan zu lenken, werde sehr geschätzt – dies sei hierfür aber nicht das richtige Beispiel.

Abschließend weist die Islamische Gemeinschaft Bosniens darauf hin, dass ihr bewusst sei, dass in Österreich gerade Wahlkampfphase herrsche, in der zu scharfer Rhetorik gegriffen werde. Sie rate aber den europäischen Politikern, wie sie es auch den Politikern am Balkan rate, dass es das Beste wäre, wenn “der Glaube jedes Einzelnen nicht politisiert und in die politische Arena gezogen” würde.

Dem Recherchenetz Balkan Insight (BIRN) gegenüber äußerte sich außerdem Besa Ismaili, die Vizechefin der Fakultät für Islamische Studien in Pristina. Sie sagt, es gebe keinen Beweis dafür, dass irgendjemand im Kosovo Frauen für das Tragen eines Kopftuches bezahlen würde und bezeichnete die Behauptung Kurz’ als “beleidigend” und “gefährlich”. “Wenn ein verschleiertes Mädchen aus der Schule verwiesen wird, ihren Job verliert, keine finanzielle Gleichberechtigung und ökonomische und politische Möglichkeiten aufgrund der Verschleierung genießt, von welchen finanziellen Vorteilen reden wir hier dann?”, fragt sie und fügt hinzu, dass die Aussage unlogisch sei. Kurz’ Behauptung sieht sie als Teil islamophober Kampagnen europäischer Rechter. Das Kopftuch werde in der Region von muslimischen Frauen außerdem seit Jahrhunderten getragen. “Verschleierte Frauen im Kosovo leben am Rande der Gesellschaft, in extremer Armut und leiden unter unglaublicher Diskriminierung. Dazu kommt, dass jemand davon spricht, dass sie Geld erhalten würden. Das ist beschämend.”, meint Ismaili.

Aber nicht nur religiösen und zivilgesellschaftlichen Organisationen fehlt es an Quellen. Auch der bosnische Sicherheitsminister, Dragan Mektic, scheint angesichts der Aussage von Sebastian Kurz ratlos: “Ich habe keine Informationen darüber. Ich habe mit unserer Sicherheitsbehörde gesprochen und sie haben ebenfalls keinerlei solcher Informationen. Ich habe keine Ahnung, worauf das basiert”, sagte er dem Fernsehsender N1 am Dienstag. Er fügte noch hinzu, dass er den österreichischen Sicherheitsdienst kontaktieren würde, um herauszufinden, woher der Bericht stamme.

Der “Standard” bat außerdem das Außenministerium um konkrete Fälle von Bezahlung. Konkrete Fälle nannte das Außenamt daraufhin nicht, sondern meinte nur, dass über solche Phänomene “allgemein” gesprochen werde. “Bundesminister Sebastian Kurz hat bei seinen diversen Besuchen in Hauptstädten des westlichen Balkans in den letzten Jahren das Phänomen der zunehmenden Radikalisierung und der Vollverschleierung von verschiedenen Gesprächspartnern mehrfach dargestellt bekommen.”

 

Alles in allem ist die Faktenlage von Sebastian Kurz’ Statement mehr als dünn. Es scheint keinen dokumentierten Fall für Bezahlung des Tragens von Kopftüchern oder Burkas zu geben – und so ist die Geschichte vorerst im Reich der Legenden anzusiedeln, die es im Balkan schon seit 100 Jahren zu dem Thema gibt. Die Aussage, dass Frauen in Sarajevo und Pristina für das Verschleiern bezahlt werden, ist nicht richtig. Natürlich kann man einwenden, dass man die Nichtexistenz der Vorfälle nicht beweisen kann. Wir glauben allerdings, dass in diesem Fall die Abwesenheit von dokumentierten Vorfällen durch mehrere Organisationen, die Kenntnis davon haben müssten und auch ein Interesse an der Publikation hätten, ausreicht, um die Aussage von Sebastian Kurz als falsch einzustufen.

 

Fotocredit Sebastian Kurz (Kleines Bild): Ailura (Wikimedia Commons) | CC-BY-SA 3.0