Wenn es ein Thema gibt, dass seit 2015 die politische und mediale Diskussion beherrscht, dann ist das die Flucht. Im Rekordjahr 2015 wollten 88.912 Menschen Asyl in Österreich, bis November stellten fast 40.000 Menschen einen Asylantrag. Auch andere Zahlen stehen zur Diskussion – zum Beispiel die Zahl illegal Aufgegriffener oder Abschiebungen, die wir hier gecheckt haben. Robert Lugar, Obmann des Team Stronach, geht aber noch etwas weiter:

“Wir haben derzeit eine Situation, wo eine halbe Milliarde Menschen erstens arm sind und zweitens nach Österreich oder Deutschland kommen wollen.”

Und diese Zahl ist natürlich absurd. Aber wie so viele falsche Aussagen hat sie einen richtigen Kern: Wenn man sich auf den Teil mit der Armut bezieht, hat Lugar recht. 702 Millionen Menschen leben weltweit in extremer Armut. Wobei sie kontinuierlich sinkt – ein Bericht der Weltbank gibt an, dass 2015 zum ersten Mal weniger als zehn Prozent aller Menschen in extremer Armut lebten. Zum Vergleich: 1999 waren es noch 29 Prozent.

Lugar arbeitet mit einer etwas höheren Zahl. Per E-Mail gibt er uns als Erklärung:

Über 750 Mio. Menschen leiden an Hunger; zum Zeitpunkt der Sendung war als offizielle Zahl etwa eine halbe Milliarde genannt, darauf bezog sich meine Aussage.

Da ist es nur logisch nachvollziehbar, dass sie – wenn sie die Möglichkeit dazu haben – in jene Länder flüchten, in denen sie sich eine bessere Versorgung mit den notwendigsten Dingen erhoffen.

Allerdings ist unklar, wieso Lugar meint, dass eine halbe Milliarde arme Menschen – also mehr als zwei von drei armen Menschen weltweit – gerade nach Österreich und Deutschland wollen. Denn nicht alle davon sind auf der Flucht, im Gegenteil – Ende 2015 waren laut Angaben der UNO-Flüchtlingshilfe 65,3 Millionen Menschen auf der Flucht – das sind 13 Prozent der Menschen in extremer Armut. Und selbst diese Rechnung hinkt: Denn viele Menschen flüchten nicht vor Armut, sondern vor Kriegen, zum Beispiel Personen aus Syrien, Afghanistan oder dem Irak.

Eine halbe Milliarde Menschen – wenn man das Vereinigte Königreich noch mitrechnet – ist fast die Bevölkerungszahl der Europäischen Union, momentan 510 Millionen. Lugars Aussage geht davon aus, dass eine solche Größenordnung von Menschen, die weltweit (und auch in Europa) in extremer Armut leben, gerne nach Österreich oder Deutschland kommen würde. Natürlich würden sie, wenn man sie fragt, vielleicht nicht Nein sagen – aber das setzt einige unrealistische Prämissen voraus.

  • Umfassende Kenntnis über Deutschland und Österreich in der ganzen Welt.
  • Eine Bewertung von zwei Dritteln aller Menschen in extremer Armut, dass diese Länder besser als alle anderen Länder der Welt sein sollten – also auch alle anderen modernen Staaten, die Flüchtlingen Perspektive bieten können.
  • Die Bereitschaft all dieser Menschen, das eigene Land und ihr Leben dort hinter sich zu lassen.

Das sind Prämissen, die man wohl besser nicht einfach übernimmt. Aber Lugar wollte vermutlich ohnehin übertreiben – und ausdrücken, dass Deutschland und Österreich die Hauptlast in der Flüchtlingskrise tragen würden. Aber auch das ist falsch. Zwar zeigt sich, dass diese beiden Länder im EU-Schnitt wesentlich mehr Flüchtlinge aufnehmen als der Rest – aber die globalen Zahlen geben da einen besseren Überblick.

Es ist eben nicht so, dass Österreich oder Deutschland die größten Aufnahmeländer wären. Die UNO führt in einem Bericht die Türkei, Pakistan und den Libanon als Spitzenreiter an – was durch ihre geografische Nähe zu Bürgerkriegsländern nahe liegt.

Aufgenommene Flüchtlinge (2015)

Im Vergleich dazu ist Europa nicht stark von der Flüchtlingskrise betroffen. Eurostat weist für 2015 folgende Zahlen bei Asylanträgen auf:Asylanträge in der EU 2015

Dabei muss man allerdings darauf hinweisen, dass im unteren Chart Asylanträge ausgegeben werden, im oberen aber Aufnahmen. Die Ziffer für aufgenommene Flüchtlinge dürfte bei allen EU-Ländern geringer ausfallen.

Insofern fehlt Lugars Aussage jegliche realistische Dimension. Es ist nicht anzunehmen, dass eine halbe Milliarde Menschen nach Deutschland oder Österreich kommen wollen – auch Zahlen- und Gedankenspiele lassen diesen Schluss nicht zu.

Fotocredit Robert Lugar (Kleines Bild): Parlamentsdirektion / Photo Simonis