Eigentlich sollte man keinen Text mit “Austria First” beginnen. Es ist ein sehr belasteter Slogan, der von Medien und Politikern immer wieder bemüht wird. Kein Wunder, dass er so oft vorkommt. Denn verwendet wird er im Zusammenhang mit der Diskussion darüber, ob der Staat Österreicher gegenüber Migranten bevorzugen solle.

Und die ist im vollen Gange: Die Mindestsicherung wird teilweise gekürzt, für Flüchtlinge soll sie eingeschränkt werden, und Integrationsminister Sebastian Kurz fordert, dass EU-Bürger fünf Jahre auf Sozialleistungen warten müssen. So geschehen in der ORF-Pressestunde, die am 19. März Kurz zu Gast hatte.

“Derzeit ist es so, dass sie ab dem ersten Tag de facto Ansprüche haben.”

Und der Ausdruck “Ansprüche” macht es etwas schwierig, da zu einer klaren Antwort zu kommen. Man kann nun Sozialleistungen durchgehen oder die generellen Rechtsnormen zitieren.

In der Debatte um die Kürzung von Sozialleistungen geht es oft um das Beziehen von Arbeitslosengeld und Mindestsicherung – oder darum, wer diese “zu Unrecht” bezieht. Kurz fordert in der “Pressestunde”, dass man zuerst ins Sozialsystem einzahlen müsse, bevor man sich diese Ansprüche verdient hätte. Und diese sind eben nicht nach einem Tag verfügbar. Da fragt man sich zuerst schon:

Gibt es ein “Recht auf Sozialleistungen?”

Und das, was teilweise suggeriert wird, stimmt eben nicht. Die Niederlassungsfreiheit der Europäischen Union erlaubt es Bürgern, sich überall um einen Job zu bewerben. Der Zugang zum Arbeitsmarkt, aber auch die unternehmerische Freiheit, Personal aus ganz Europa anzustellen, gehören also zu diesem Prinzip der EU. Nicht darin enthalten ist eine Art “Recht” auf Zugang zum Sozialstaat.

Im Gegenteil: EU-Staaten können bei Verdacht auf den Missbrauch von Sozialleistungen – also auch die Beziehung von Leistungen, die einem nicht zustehen – sogar EU-Bürger abschieben. Zudem muss ein gewisses Minimum an “existenzsichernden Mitteln” bewiesen werden, um bleiben zu dürfen. Statt Sozialleistungen ab Tag 1 gilt also erstmal Arbeit ab Tag 1.

Konkrete Ansprüche

Generell gilt: Wer fünf Jahre in Österreich wohnt, hat unabhängig seiner Staatsangehörigkeit Anspruch auf die Mindestsicherung. Das gilt also auch für Bürger von Drittstaaten. Davor allerdings haben auch EU-Bürger nur dann einen Anspruch auf die Mindestsicherung, wenn sie bereits arbeiten.

Das führt dazu, dass die meisten Mindestsicherungsbezieher mit EU-Staatsbürgerschaft sogenannte “Aufstocker” sind: Menschen mit schlecht bezahlten Jobs können sich die Differenz auf die Mindestsicherung (und somit das Existenzminimum) vom Staat bezahlen lassen. Nicht erwerbstätige Unionsbürger haben auf sie jedenfalls keinen Anspruch. Dazu kommt: Wenn EU-Bürger keine “ausreichenden Existenzmittel” nachweisen können, kann ihnen theoretisch ein fremdenpolizeiliches Ausweisungsverfahren drohen – der Antrag auf Mindestsicherung bedroht also das Aufenthaltsrecht.

Für die Beziehung von Arbeitslosengeld wiederum muss man in den vergangenen zwei Jahren mindestens 52 Wochen beschäftigt gewesen sein. Ausnahme sind unter 25-jährige: Bei ihnen ist es ein halbes Jahr. Auch hier hat niemand nach nur einem Tag Arbeit in Österreich Anspruch auf Sozialleistungen.

Und was die aktuell diskutierte Familienbeihilfe angeht: Hier gilt vor allem der Wohnsitz der Erwerbstätigen. Wenn jemand in Österreich arbeitet, aber die Familie in einem Nachbarstaat ist und nicht arbeitet, ist Österreich grundsätzlich für Sozialleistungen zuständig. Die Regelung der Beihilfe ist sonst gleich wie für Österreicher. Ansonsten können EU-Staaten sich gegenseitig noch “aufstocken” – wenn ein Österreicher also in einem anderen EU-Staat arbeitet und dort Familienbeihilfe bezieht, kann er sich diese auf das österreichische Niveau “aufstocken” lassen.

Fazit

Am Beispiel der Familienbeihilfe kann man einen sehr frühen, einfach verfügbaren Anspruch auf eine Sozialleistung argumentieren. “Anspruch auf Sozialleistungen generell” stimmt aber nicht. Kurz’ Sager, der von Medien dankbar aufgenommen wurde, suggeriert etwas Falsches. Kein Mensch bekommt am ersten Tag in Österreich Geld vom Staat. Und seine Forderung passt gut dazu – denn einen Anspruch auf Mindestsicherung hat man auch jetzt schon nach fünf Jahren.

 

Edit

Ein Leser namens Thomas hat uns auf die ältere Tatbestandsgruppe der wirtschaftlichen Freizügigkeit hingewiesen. Hier knüpft das Aufenthaltsrecht zwar prinzipiell an eine Erwerbstätigkeit an – teilweise genügt auch Arbeitssuche -, allerdings benötigt es hierfür kein Mindesteinkommen. Sobald also ein EWR-Ausländer oder Schweizer der wirtschaftlichen Freizügigkeit unterliegt, entfallen die weiteren Aufenthaltsvoraussetzungen und besteht vom ersten Tag an Anspruch auf Inländergleichbehandlung – somit auch auf Sozialleistungen. Thomas verweist dabei: “Das ist schon lange ständige Judikatur des EuGH seit Rs 48/75, Royer (Aufenthaltsrecht ist ein akzessorisches Begleitrecht zur wirtschaftlichen Freizügigkeit). Also bitte nicht die allgemeine Freizügigkeit mit dem Aufenthaltsrecht als Begleitrecht zur wirtschaftlichen Freizügigkeit verwechseln. Kurz hat bei letzterer Variante nämlich Recht.”

Das und die Rechtslage bei der Familie reichen, um unser Urteil von “Falsch” nicht mehr zu rechtfertigen. Da Kurz nach wie vor etwas Falsches impliziert und das unter “Out of context” fällt, geben wir nun ein “Halbrichtig”.

Fotocredit Sebastian Kurz (Kleines Bild): Ailura (Wikimedia Commons) | CC-BY-SA 3.0